Als
Prof. Müller-Schwefe mir nach dem Examen 1978 ans Herz legte, die Vorteile
der Tübingen-Leeds-Connection in Anspruch zu nehmen, akzeptierte ich,
ohne vorausahnen zu können, daß die folgenden drei Jahre am Department
of German der University of Leeds für mich sehr viel prägender
sein würden, als wenn ich, wie die meisten Mitstudenten, sofort das
Referendariat angetreten hätte.
Allerdings wurden während dieser drei Jahre meine Einstellungschancen
beim Oberschulamt Stuttgart drastisch geschmälert. Während noch
ein Großteil meiner Examenskollegen von 1978 sofort nach dem Referendariat
eine Anstellung als Assessor erhielten, war es von meinem Referendariatsjahrgang
1983 nur noch ein verschwindender Prozentsatz. Das ist bis heute so geblieben,
wo es Jahre gibt, in denen überhaupt keine Junglehrer eingestellt werden.
(Ich bin mit 46 in unserem Kollegium die Zweitjüngste – eine
Entwicklung, die sich noch rächen wird!)
Außerdem sagte man mir nach meiner Rückkehr aus Leeds, ich sei
nun überqualifiziert, da zu lange im Ausland gewesen, und deshalb nicht
mehr brauchbar. – Ich habe all diese Schwierigkeiten überwunden
und bin heute als Oberstudienrätin sehr glücklich. Längst
ist mir bewußt, daß mein Lehren und Lernen in Leeds den Grundstein
für meine gesamte berufliche und persönliche Entwicklung gelegt
hat. Dafür bin ich sehr dankbar.
Im Rückblick kommt es mir so vor, als hätte ich in diesen drei
Jahren viel mehr gelernt als gelehrt. Das verdanke ich den Menschen, die
ich im German Department antraf und mit denen mich zum großen Teil
heute noch eine Freundschaft verbindet. Sie alle brachten mir Vertrauen
entgegen, als sie mich, Opfer unseres deutschen Studiensystems, bei dem
die Methodik und Praxis völlig vernachlässigt wurde, einfach vor
eine Gruppe 1st- oder 2nd-years stellten und mich Idiomatik (Idiotik?),
Landeskunde oder Prose-Translation unterrichten ließen. Und es funktionierte!
Kleine Gruppen, humorvolle und disziplinierte Studenten – und schon
war die Feuertaufe für alle künftige Lehrtätigkeit erfolgt!
Lehren und Lernen waren nirgends voneinander zu trennen : nicht in den Gesprächen
mit den Finalists bei der gemeinsamen Fehleranalyse während der Essay-Rückgabe,
nicht in meinen wöchentlichen Sitzungen mit dem Spanisch-Professor
Gareth Davies, von dem ich mindestens soviel über Kelten und Waliser
erfuhr, wie ich ihm Deutsch beibrachte. Höhepunkt dieser Wechselwirkung
zwischen Lehren und Lernen war für mich jedoch meine Arbeit als language
coach an der damaligen ENON (English National Opera North), zu der mich
das Department freistellte. Dies war eine neue Art des “Sprachunterrichts”,
bei der ich tiefe Einblicke in den Zusammenhang zwischen der Stimmlage der
jeweiligen Solisten und der (sprachlichen?) Intelligenz derselben gewann.
daß der Tenor dabei den Vogel abschoss, wird wohl niemanden erstaunen,
der sich in diesem Metier auskennt. Der Satz
“Bei Gewitter und Sturm auf weitem Meer mein Mädel, bin dir
nah …”,
den Richard Wagner dem Steuermann seines Fliegenden Holländers in den
Mund legte, ohne zu ahnen, daß dessen Mundwerkzeug durch das lebenslange
Formulieren englischer Lautung besondere Formen angenommen haben könnte,
beschäftigte uns täglich, ohne daß nach vier Wochen intensivster
Proben ein Unterschied zu dem Buchstabensalat vom ersten Tag hörbar
geworden wäre. Die Bariton-Hauptrolle, der Holländer, war zum
Glück gebürtiger Waliser und sehr viel schneller mit der Tücke
der Laute vertraut; und daß Senta, der Sopran, fast nicht zu unterrichtet
werden brauchte, versteht sich von selbst. Warum sonst hätte das German
Department stets weibliche Lektorinnen bevorzugt, wenn nicht wegen der überlegenen
sprachlichen, aber auch emotionalen und kommunikativen Intelligenz der Frauen?
Mein language-coaching setzte ich nach erfolgreich überstandener Premiere
des Flying Dutchman im Yorkshire Bachchoir fort, wo ich von Peter
Seymour und seiner Frau Yvonne stimmlich weiter ausgebildet, an Wochenenden
mit Roastbeef und Yorkshire Pudding gefüttert, als Sopransängerin
begrüßt und für Bachkantaten und Oratorien als deutscher
Sprachlehrer eingesetzt wurde. Auch hier waren Lehren und Lernen nicht voneinander
zu trennen. Diese Erfahrung schuf den Grundstein für meine jahrelange
Arbeit beim Kammerchor Stuttgart, den ich, wenn ich nicht selbst mitsang,
bei Händel-Oratorien oder Purcells Fairy Queen für in
der Originalsprache gesungene CD- oder Rundfunkaufnahmen vorbereitete –
eine sehr abwechslungsreiche und ungewöhnliche Art des Sprachunterrichts.
Am
tiefsten haben sich Menschen und Landschaften ins Gedächtnis eingegraben.
Auf der einen Seite die eindrucksvollen Begegnungen mit dem Dichter Geoffrey
Hill, die ich Raymond verdanke – und auf der anderen die Angst vor
dem ‘Yorkshire Ripper’, der sein letztes Opfer wenige Minuten,
bevor ich abends nach dem Babysitting bei Helen und Hugh in die Lupton
Flats heimkehrte, dort heimsuchte. Dazu gehörte auch die Dankbarkeit
gegenüber Prof. Knight, der mich jeden Abend persönlich nach
Hause fuhr, bis der Ripper endlich gefangen war. – Hier die abwechslungsreichen
Wanderungen durch die Dales mit Douglas, dort das flaue Gefühl im
Magen, sobald ich mich einmal unabsichtlich südlich vom Bahnhof wiederfand.
Die Lektorinnen der letzten 10 Jahre werden dies kaum nachvollziehen können!
“Learning
by doing” und situatives Lernen sind inzwischen wichtige Schlagwörter
für den Fremdsprachenunterricht. Da dies zu meiner eigenen Schulzeit
noch nicht der Fall war – mein Englischunterricht in Klasse 11 bestand
ein Jahr lang aus der Übersetzung, Zeile für Zeile, von Shakespares
Julius Caesar – bin ich dankbar für jede Situation in den 3
Leedser Jahren, die mich um Sprachwissen bereicherte.
Dankbar bin ich auch dafür, daß meine achtjährige Tochter
heute eine Schullandschaft vorfindet, die sich – gerade in Bezug
auf den Fremdsprachenunterricht – nicht mehr mit der von vor 30
Jahren vergleichen lässt. Bei uns im süddeutschen Raum sprießen
die Gymnasien mit bilingualem Zweig wie Pilze aus dem Boden. Der Englischunterricht
wird jetzt flächendeckend für Klasse 3 der Grundschule eingeführt,
private Institutionen und Verlage bieten vielfältiges Lernmaterial
schon für 3- bis 6jährige. Im Zuge der Globalisierung rückt
handlungsorientiertes Lernen weiter in den Vordergrund. Die Arbeitsgemeinschaften
für Wirtschaftsenglisch und technisches Englisch erfreuen sich an
unserer Schule großer Beliebtheit. Und meine English Theatre Group,
bestehend aus Schülern der Klassen 7-13, führte jüngst
mit Erfolg in der Originalsprache das Drama Inook and the Sun
des kanadischen Autors Henry Beissel auf, in dem Eskimomythen lebendig
werden. Im Gespräch mit dem Autor, der uns auf einer Vortragsreise
besuchte, wurde deutlich, daß das einjährige Projekt den Schülern
über das intensive Sprachwissen hinaus tiefe Einblicke in eine faszinierende
Kultur und in die Werkstatt des Dichters vermittelt hatte. Ein fächerübergreifender
Unterricht, bei dem keine extrinsische Motivation mehr nötig ist.
Lehren und Lernen sind in solchen Situationen verschmolzen zu einer einzigen
Erfahrung, von deren positiver Energie alle Beteiligten lange zehren können.
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